Intensivpädagogik Blog
Selbstfürsorge:
Weil ich nur geben kann, wenn ich auch empfange
In der intensivpädagogischen Arbeit bewege ich mich täglich in einem Spannungsfeld zwischen Nähe und Abgrenzung, Verantwortung und Ohnmacht, Begleitung und Belastung. Die Kinder, mit denen ich lebe und arbeite, tragen schwere Geschichten in sich und oft legen sie sie unbewusst in meine Hände. Ich begleite ihre Wut, ihre Ängste, ihr Misstrauen, manchmal Tag und Nacht.
Diese Arbeit ist tief berührend, aber auch fordernd. Denn ich bin nicht nur Fachkraft, ich bin Beziehungsperson, Projektionsfläche, Orientierung, Sicherheit. Und wenn ich dabei nicht auch gut für mich selbst sorge, dann verliere ich mich. Ich verliere meine Kraft, meine Klarheit, meine Freude. Deshalb ist Selbstfürsorge für mich kein Luxus, sondern Voraussetzung. Ich kann nur stabil sein, wenn ich mich selbst stabilisiere. Ich kann nur halten, wenn ich nicht selbst innerlich wegrutsche.
Was bedeutet Selbstfürsorge für mich?
Es bedeutet, mich selbst ernst zu nehmen. Mich nicht erst dann zu spüren, wenn ich erschöpft bin, sondern vorher. Es heißt, meine Bedürfnisse nicht ständig hintanzustellen, sondern ihnen Raum zu geben, damit ich überhaupt fähig bleibe, empathisch zu handeln.
Hier sind ein paar Dinge, die mir in meinem Alltag helfen, ganz praktisch, ganz persönlich:
1. Rituale für mich selbst schaffen
Wie ich den Kindern Struktur und Wiederholung anbiete, brauche auch ich kleine Anker. Ein Kaffee am Morgen, ein Mittagsschläfchen nach der Schicht, ein Spaziergang ohne Handy. Nichts Großes, aber etwas, das mir gehört.
2. Körper wahrnehmen, nicht nur aushalten
Zwischendurch bewusste Atemübungen. Ich bewege mich. Ich spüre, wo mein Körper Spannung hält und versuche, sie nicht zu ignorieren. Yoga, tanzen, Sport nach einem anstrengenden Dienst helfen mir, wieder bei mir anzukommen.
3. Kollegiale Reflexion nutzen
Ich trage nicht alles allein. Austausch im Team, ehrlich, offen, auch mal emotional, ist für mich kein Zeichen von Schwäche, sondern von Professionalität. Manchmal reicht ein Satz wie: „Das hat mich gestern ganz schön mitgenommen.“ Und schon wird’s leichter.
4. Auch meine eigenen Grenzen achten
Ich muss nicht immer erreichbar sein. Ich darf auch mal Nein sagen. Ich darf mich aus Situationen herausnehmen, wenn sie mir zu viel werden. Und ich darf Aufgaben abgeben, wenn ich merke: Das wird mir zu schwer.
5. Freude suchen
Ich erinnere mich bewusst an das, was mich nährt. Lachen mit den Kindern. Ein Lied, das mich bewegt. Ein Moment, in dem ich gesehen habe, dass etwas gewachsen ist. Ich sammle kleine Lichtblicke, weil ich sie sonst im Alltag verliere.
6. Hilfe frühzeitig annehmen
Ich kenne meine Warnsignale. Schlafprobleme, Reizbarkeit. Wenn sie kommen, warte ich nicht ab. Ich spreche es an, hole mir Unterstützung, manchmal auch professionell. Das ist kein Scheitern, das ist Fürsorge für meine Fähigkeit, weiter gut arbeiten zu können.
Selbstfürsorge ist kein Egoismus. Es ist der Grund, warum ich überhaupt in Beziehung treten kann, echt, achtsam, tragfähig. Ich will für die Kinder da sein, aber nicht auf Kosten meiner eigenen Gesundheit. Denn nur wenn ich auch gut für mich sorge, kann ich das sein, was sie am meisten brauchen: ein verlässlicher, stabiler, lebendiger Mensch.
7. Supervision: Eine tragende Säule meiner Selbstfürsorge
Ein wesentlicher Bestandteil meiner Selbstfürsorge ist für mich die Supervision, sowohl im Einzelsetting als auch im Team. In meinem Arbeitsalltag in einer intensivpädagogischen Wohngruppe begegnen mir immer wieder Situationen, die emotional herausfordernd sind. Wenn mich bestimmte Ereignisse besonders beschäftigen oder belasten, dann nehme ich gezielt eine Einzelsupervision in Anspruch. Dort habe ich Raum, meine Gedanken zu sortieren, meine Gefühle auszusprechen und mit einer professionellen Begleitung wieder Klarheit zu gewinnen. Es hilft mir, Abstand zu gewinnen, meine eigenen Anteile zu reflektieren und neue Perspektiven zu entwickeln.
Aber nicht nur die Einzelsupervision ist wertvoll, auch die regelmäßige Teamsupervision empfinde ich als enorm stärkend. Sie ist ein Ort, an dem unser Team als Ganzes gesehen und gehört wird. Wir sprechen offen über Spannungen, Missverständnisse oder auch belastende Gruppendynamiken und stärken dadurch unser Miteinander. Gerade in einem Setting, in dem so viel Professionalität, emotionale Präsenz und Zusammenarbeit gefragt sind, ist es unverzichtbar, dass auch das Team als System gut begleitet wird. Durch Supervision wächst nicht nur die fachliche Qualität, sondern auch das Vertrauen im Team.
Supervision ist für mich kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, ein aktiver Beitrag zur eigenen Psychohygiene und zur Qualität unserer Arbeit. Sie erinnert mich immer wieder daran: Auch ich bin wichtig. Mein Wohlbefinden ist die Basis dafür, dass ich für andere da sein kann.
Verlorene Selbstfürsorge und der Mut die Handbremse zu ziehen
Manchmal gerät Selbstfürsorge jedoch leise in den Hintergrund. Besonders dann, wenn der Alltag alles andere als gewöhnlich ist. Genau das ist mir passiert. Und ich möchte ein Stück dieses Erlebnisses mit euch teilen:
Ich hatte mir fest vorgenommen, achtsam zu bleiben, meine Warnsignale ernst zu nehmen, Pausen zuzulassen und gut für mich zu sorgen. Doch inmitten einer herausfordernden Zeit verlor ich genau das aus dem Blick.
Unsere Wohngruppe musste wegen Renovierungsarbeiten, unter schwierigen Bedingungen, ausgelagert werden. Durch Fluktuation und Personalmangel kamen Überstunden und Einzeldienste hinzu. Und dann war da noch dieses Mädchen, das mich mit ihren besonderen Themen und extrem herausfordernden Verhalten an meine Grenzen brachte.
In meinem Blog Beitrag „Am Boden angelangt“ könnt ihr mehr darüber lesen.
Monate voller Anspannung lagen hinter mir. Während dieser Zeit versuchte ich meinen Optimismus zu bewahren und funktionierte einfach weiter. Meine eigenen Bedürfnisse schob ich zur Seite, weil es irgendwie weitergehen musste.
Erst als sich die Situation beruhigte, wurde mir bewusst, wie erschöpft ich eigentlich war. Ich fühlte mich energielos, hatte Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und empfand innere Leere.
Da erinnerte ich mich an mein Versprechen gut für mich zu sorgen.
Ich suchte das Gespräch mit meiner Gruppenleitung, sprach offen über meine Erschöpfung und den Wunsch nach einer Auszeit. Die Reaktion war verständnisvoll, mitfühlend und stärkend. Ein Moment echter menschlicher Resonanz!
Inzwischen wurden neue Kolleginnen eingestellt, und bald werde ich mir diese bewusste Zeit für mich nehmen. Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen, loszulassen und meine innere Balance neu zu finden.
Denn auch das gehört zur Wahrheit:
Selbstfürsorge kann in schwierigen Zeiten verloren gehen, aber wir können immer wieder zu uns selbst zurückfinden!