Die deeskalative Grenzsetzung und die verbale Deeskalation
Intensivpädagogik Blog
Die deeskalative Grenzsetzung:
Klar kommunizieren, ohne zu eskalieren
„Ich habe keinen Bock auf eure scheiß Regeln!“
| Die Tür knallt. Ein Stuhl fliegt gegen die Wand. In der Ecke steht Leon, 12 Jahre, hochrot im Gesicht, die Hände zu Fäusten geballt. Das Team hatte gerade versucht, ihn an die vereinbarte Medienzeit zu erinnern. Für uns eine Kleinigkeit für ihn offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Solche Momente gehören zum Alltag in einer intensivpädagogischen Wohngruppe. Sie sind laut, kraftvoll und oft aufwühlend, für die Kinder genauso wie für uns Fachkräfte. Und trotzdem bergen sie immer auch eine Chance: Wenn wir es schaffen, hinter das Verhalten zu blicken, Beziehungen zu halten und deeskalierend zu wirken, statt in die Eskalation mit einzusteigen. Denn Eskalation passiert nicht einfach so. Sie folgt Mustern. Und sie gibt uns, wenn wir genau hinschauen, Hinweise auf das, was darunter liegt: Ohnmacht, Verletzungen oder Kontrollverlust. In diesem Blogbeitrag geht es deshalb darum, wie wir deeskalierend handeln können, ohne unsere Haltung oder Grenzen aufzugeben. | ![]() |
Grenzen zu setzen, gehört zum pädagogischen Alltag. Doch wie gelingt es, dies klar und bestimmt zu tun, ohne Eskalationen zu fördern? Die Methode der deeskalativen Grenzsetzung bietet hier ein wirksames Kommunikationsmodell. Sie basiert auf drei miteinander verbundenen Elementen: Sachinhalt, Selbstoffenbarung und Appell.
Diese Form der Grenzsetzung stärkt nicht nur die Beziehungsebene, sondern wirkt auch präventiv gegenüber Eskalation. Sie ist klar, ehrlich und respektvoll und bringt gleichzeitig die Bedürfnisse der pädagogischen Fachkraft zum Ausdruck.
Gerade in herausfordernden Kontexten wie der stationären Jugendhilfe oder der Arbeit mit traumatisierten Kindern schafft diese Methode Verbindlichkeit und Orientierung, ohne zu verletzen oder zu dominieren. So entstehen Räume für echte Entwicklung mit Herz und Haltung.
Beispiel Leon:
„Leon, du hast gerade einen Stuhl gegen die Wand geworfen und laut geschrien. Das hat mich erschrocken, ich spüre, dass mich solche Ausbrüche sehr anspannen. Ich möchte, dass du mir in solchen Momenten sagst, was dich wütend macht ohne etwas zu werfen.“
1. Sachinhalt
„Du hast den Stuhl gegen die Wand geworfen und laut geschrien, als wir dich an die Medienzeit erinnert haben.“
Die Grenzverletzung wird sachlich, ohne Vorwurf, Bewertung oder Interpretation benannt.
2. Selbstoffenbarung
„Das hat mich erschrocken, ich spüre, dass mich solche Ausbrüche sehr anspannen.“
Die eigene emotionale Reaktion wird transparent gemacht. Keine Schuldzuweisung sondern ehrliche Ich-Botschaft. Die Fachkraft zeigt, wie sie sich in der Situation fühlt.
3. Appell
„Ich möchte, dass du mir in solchen Momenten sagst, was dich wütend macht ohne etwas zu werfen.“
Das gewünschte Verhalten wird klar, konkret und beziehungsorientiert formuliert.
Die verbale Deeskalation:
Wenn Worte zur Brücke werden
Die verbale Deeskalation ist ebenso eine klare und wirksame Methode, die nicht nur pädagogischen Fachkräften in herausfordernden Momenten hilft handlungsfähig bleiben zu können.
Ablauf:
1. Sicherheit
Bevor ein Gespräch beginnen kann, steht die eigene Sicherheit im Vordergrund. Ein freier Fluchtweg im Rücken, ausreichender Abstand sowie eine offene Körperhaltung mit sichtbaren Händen signalisieren sowohl Selbstschutz als auch Deeskalationsbereitschaft.
2. Kontaktphase
Mit einer klaren Ansprache und einem angepassten Energieniveau (z.B. ruhige Stimme) wird der erste Kontakt zur eskalierten Person aufgenommen. Es gilt, weder zu fordernd noch zu passiv zu wirken sondern präsent, ruhig und ansprechbar.
Beispiel Leon: Anrede mit ruhiger Stimme: „Leon, ich sehe, du bist echt wütend.“
3. Beziehungsphase: Verstehen statt bewerten
In dieser Phase geht es um echtes Verstehen. Durch wertfreies Spiegeln des Gesprochenen, von Gefühlen, des Körpers wird der Person signalisiert: „Ich sehe dich, ich höre dich, ich bewerte dich nicht.“ Der Fokus liegt auf Beziehung statt Konfrontation.
Beispiel Leon: Verhaltensspiegelung: „Du hast den Stuhl geworfen und laut gesagt, dass du keine Lust mehr auf die Regeln hast.“
4. Konkretisierungsphase – die Eskalation greifbar machen
Nun wird das Verhalten konkretisiert, z. B. mit Fragen wie „Was genau stört dich?“, „Jetzt gerade oder schon länger?“, „Was ärgert dich am meisten?“ Dadurch wird die Lage entschärft, weil sie differenziert betrachtet werden kann.
Beispiel Leon: „Was genau hat dich so geärgert? Die Regel selbst oder wie wir dich erinnert haben?“, „Ist das jetzt gerade entstanden oder schon vorher in dir gewesen?“
5. Lösungsphase: In die Zukunft schauen
Durch gezielte Lösungsanregungsfragen wird gemeinsam nach einer Lösung gesucht: „Was würde dir jetzt helfen?“, „Wie könnte es weitergehen?“ Die Selbstverantwortung wird gestärkt, und der Fokus verlagert sich von der Eskalation zur Lösung.
Beispiel Leon: „Was brauchst du, damit du dich wieder beruhigen kannst?“, „Wollen wir gemeinsam schauen, wie du beim nächsten Mal zeigen kannst, dass dir etwas nicht passt, ohne etwas kaputt zu machen?“
Nonverbale Begleiter:
Körpersprache als Schlüssel
Nicht zuletzt sind Gestik, Mimik, Stimme und Sprache sowie ein dynamisch angepasster Bewegungsstil entscheidend. Sie geben dem Gesagten Glaubwürdigkeit und helfen dabei, ein Gefühl von Sicherheit und Klarheit zu vermitteln.
Wichtig ist bei beiden Ansätzen (deeskalative Grenzsetzung und verbale Deeskalation), dass sie nicht autoritär, sondern beziehungs- und haltungsorientiert erfolgen. Sie fordern Klarheit, aber bleiben dabei immer achtsam, respektvoll und lösungsorientiert.
Verbale Deeskalation ist ein trainierbares Handlungsmodell, das Haltung, Kommunikation und Beziehung vereint. Wer gelernt hat, in der Eskalation ruhig zu bleiben und bewusst zu sprechen, gibt dem Gegenüber das größte Geschenk: einen Raum, in dem Verstehen möglich wird und Veränderung beginnt.
